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Der Lohn der Angst

Die ökonomischen und wirtschaftsethischen Lehren für eine Post-Corona-Welt? Jede Rettungsmaßnahme der Gegenwart muss daraufhin geprüft werden, ob sie der nachfolgenden Generation die Zukunft verbaut. Und nicht jede Anpassung sollte verhindert werden, nur weil sie schmerzhaft ist.

Angst ist meistens kein guter Ratgeber. Richtig ist: Angst kann zum Selbstschutz nützlich sein.
Richtig ist aber auch: Auf Dauer lähmt sie. Das gilt auch und gerade in Coronazeiten. In der jetzigen Pandemie führten drei Faktoren zu radikalen politischen Entscheidungen: erstens die anfangs berechtigte Furcht vor einer grenzenlosen Katastrophe, zweitens die Orientierung der politisch Verantwortlichen an der diffusen Angst und medialen Verängstigung der Öffentlichkeit, und drittens schließlich die ausgeprägte Motivation, Ideologien und das eigene Staatsverständnis unter dem Etikett Corona durchzudrücken oder auszubauen. 

Das wiederum führte oft zu ökonomischen Streueffekten und in der Folge zu ethischen Schieflagen: Zum einen wurden viele Gesundheitsschutzmaßnahmen debattiert, ergriffen und auch wieder verworfen, ohne dass es dafür eine ausreichende Faktenbasis und wissenschaftliche Begründung gab. 

Zum anderen wird nun wirtschafts- und finanzpolitisch so sehr mit Geld herumgeworfen wie nie zuvor in der Nachkriegszeit – zulasten der europäischen Sparer und Steuerzahler und mit unabsehbaren Folgen für die Wettbewerbsfähigkeit und finanzielle Solidität Europas. Nichts ist daran nachhaltig, eine gewaltige Rechnung wird die nächste Generation belasten. 

Augenfällig sind die Billionenbeträge, mit welchen die Europäische Zentralbank (EZB) einerseits Kredite an Geschäftsbanken vergibt und andererseits Staats- und Unternehmensanleihen am Markt zusammenkauft, um angeblich die Wirtschaft in der Coronakrise zu stützen. 

Schuld und Bürde

Das Problem dabei: All das scheint nicht nur wenig nachhaltig, sondern die Begründung ist auch unehrlich! Die Europäische Zentralbank (EZB) hat sich seit den berühmt gewordenen Worten ihres damaligen Chefs Mario Draghi, «whatever it takes» zu unternehmen, in einen Goldesel verwandelt. Sie tut also alles, was nötig ist, um den Finanzmärkten alle Kraft zu entziehen, die Stabilität des Euro wirksam bezweifeln zu können. Die EZB kauft seit Draghis Rede im Jahr 2012 Anleihen von Staaten, um deren Finanzierungskosten zu senken und somit die Staatsbudgets zu entlasten. Die Staaten haben die Hilfe aber nicht genutzt, um Schulden strukturell abzubauen, sondern um mit dem gleichen Schuldendienst höhere Schulden zu günstigeren Konditionen aufzunehmen. Mit den hohen Schulden stehen viele Staaten längst in einer Sackgasse; nun eilt ihnen die EZB unter einem neuen Vorwand wieder zu Hilfe. 

Die Flutung der Märkte mit Liquidität durch die EZB kann langfristig jedoch hohe Kosten haben: Erstens vermischt die Zentralbank mit dem Kauf von Staatsanleihen Geld- mit Fiskalpolitik, gerät dadurch in den Einflussbereich der Politik und verliert letztlich die geistige und politische Unabhängigkeit. Ob sie die Geldpolitik wirklich eines Tages auch wieder straffen könnte, wird umso fraglicher, je mehr Staaten dann vor dem Bankrott stünden (und vielleicht auch: je mehr Politiker im Zentralbankrat sitzen).

Zweitens drückt die EZB die Zinsen im Allgemeinen und jene der hoch verschuldeten Staaten am meisten. Wird der Zins als wichtigster relativer Preis in einer Volkswirtschaft verzerrt, dann wird auch die Kapitalallokation verfälscht: Es wird in Projekte und Staaten investiert, die langfristig nicht in einem gemeinsamen Währungsraum überlebensfähig sind. Damit wird der Strukturwandel der Wirtschaft und folglich das Wachstum gebremst. Als Folge wird das Risiko einer verspäteten, aber schmerzhaften Strukturbereinigung vergrößert, und es wird nutzlos Geld verbrannt.

Nicht minder brisant ist die Umverteilungswirkung, die die EZB-Politik haben kann. Erstens verdient der kleine Konto-Sparer nichts mehr und verliert real sogar an Kaufkraft. Im Gegensatz dazu profitieren Besitzer von Realwerten wie Immobilien oder Aktien (eher große Vermögen). Obschon das zwar teils über die Steuern ausgeglichen wird, kann es zu politischem Unmut führen. Zweitens wird das leichtsinnige Eingehen von Anlagerisiken («moral hazard») provoziert und geradezu belohnt, wenn beispielsweise kreditunwürdige Länder und Unternehmen immer wieder mit Liquidität versorgt und dadurch gerettet werden. So konnte man mit griechischen Anleihen schöne Kapitalgewinne erzielen, obwohl man unter reinen Marktbedingungen damit das ganze Geld verloren hätte. Leichtsinnige Risikojäger werden letztlich zulasten der Steuerzahler belohnt – das darf nicht sein.

Krise gegen Normalität

Der stärkste Coronareflex der Politiker in den meisten europäischen Staaten war es, Arbeitnehmern – und somit Wählern – durch Kurzarbeitsregelungen die Arbeitslosigkeit zu ersparen. Das ist prinzipiell ein gutes temporäres Hilfsmittel. Damit sowohl für die Betriebe als auch die Arbeitnehmer Anreize bestehen, rasch in den Normalbetrieb zurückzufinden, sollten diese Kurzarbeitsregelungen klar zeitlich begrenzt sein und nie den vollen Lohn ersetzen. Sonst kommt, wie mancherorts im Lockdown geschehen, fast Urlaubsstimmung auf, verbunden mit dem Unwillen, wieder voll arbeiten zu gehen. Für eine klare Begrenzung solcher Maßnahmen spricht auch deren Abgrenzungsproblematik: Sind beispielsweise nur Angestellte oder auch Selbstständige berechtigt? Hilfe erzeugt auch immer Ungleichheit und Ungerechtigkeiten.

Viele Länder vergaben an Unternehmen auch Notkredite. In nicht wenigen Fällen wird dies den Konkurs nicht abwenden, sondern nur hinauszögern. Denn jedem Unternehmer ist klar, dass er einen Kredit zurückbezahlen muss. Wenn man beispielsweise als Stadthotel vor der Coronakrise eine schwarze Null schrieb und keine Reserven aufgebaut hat, wird es nach der Krise mit höherem Fremdkapital und einem Rückzahlungszwang nicht einfacher. Das Risiko, dass Steuergeld in erheblichem Umfang in nicht überlebensfähige Betriebe gesteckt wurde, ist nicht vernachlässigbar. Jene Unternehmen, die selbst Reserven aufgebaut haben und nun ihre Konkurrenten durch den Staat gerettet sehen, dürften sich ärgern.

In Henri-Georges Clouzots Meisterfilm «Lohn der Angst» (1953) brechen vier Gelegenheitsarbeiter mit zwei Lastern voller Nitroglyzerin auf, um über unwegsames Gelände eine in Brand geratene Erdölquelle zu erreichen: Nur die Druckwelle einer «Bazooka» kann den Brand löschen. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die Lastwagen anno 2020 mit Staatsanleihen und Konjunkturprogrammen beladen sind. Was also wird am Ende der «Lohn der Angst» sein? Welche Lehren aus den Beobachtungen der vergangenen Monate ließen sich politisch wie ökonomisch ziehen? Statt Schuldenberge weiter aufzutürmen, um notwendige Strukturanpassungen bei Unternehmen und Strukturreformen bei den Staaten hinauszuzögern, wäre es für die Zukunftsperspektive besser, den Jungen möglichst wenig Schulden aufzubürden. Statt Anleger von Risikoinvestitionen immer wieder staatlich zu retten, wäre es wichtig, auf Eigenverantwortung zu setzen und in extremis auch Konkurse respektive Staatsbankrotte zuzulassen.

Kapitalismus ohne Konkurs ist wie Christentum ohne Hölle oder – weniger theologisch – Sonne ohne Regen. Krisen sind schmerzhaft, und niemand wünscht sie herbei. Langfristig ist aber nicht, wie oft behauptet, der viel gescholtene Neoliberalismus das Problem, sondern das zu große Ausmaß an Staatswirtschaft. Schafft der Staat Abhängigkeiten, so ruft jede und jeder in Krisen nach noch mehr Hilfe durch den Staat. Nur – der Staat sind wir! Wenn wir finanziell nachhaltig wirtschaften und nicht auf Kosten künftiger Generationen leben wollen, so ist ein gesundes Maß an Eigenverantwortung ohne überbordenden staatlichen Paternalismus wichtig. 

«Kapitalismus ohne Konkurs ist wie Christentum ohne Hölle oder – weniger theologisch – Sonne ohne Regen. Krisen sind schmerzhaft, und niemand wünscht sie herbei»

Ändern wir uns und unser Verhalten nicht, so zahlen die Jungen den Lohn der Angst. Wie lange geht das noch gut? Nun, die Antwort darauf gab einmal Mervyn King als Governor der Bank of England, als er das Timing von Finanzkrisen und das Platzen von finanziellen Blasen mit einem Turm von Bauklötzen verglich, den wir als Kinder gern bis in den Himmel aufrichteten: Auf der einen Seite sei man erstaunt, wie viele Steine selbst auf einem wackeligen Turm noch Platz hätten. Auf der anderen Seite bekomme man schlussendlich dann doch einen Schreck, wie schnell ein solcher Turm umfalle, ohne dass man sich vor den Trümmern noch rechtzeitig in Sicherheit bringen könne.


16. Oktober 2020


Autoren

NILS OLE OERMANN
ist Professor für Ethik mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit und nachhaltiges Wirtschaften an der Universität Lüneburg.

THOMAS HAUSER
ist geschäftsführender Partner der Dr. Pirmin Hotz Vermögensverwaltungen AG.


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